unverschämte Provokation !
Das hier war "mein Derby":
Das erste Heimspiel unter Mirko Slomka, nach lauter schwachen Testspielen und einem wenigstens erfolgreichen Rückrundenstart beim zukünftigen Absteiger vom Betzenberg – mit gemischten Gefühlen fahren wir zum Revierderby, das doch eigentlich der höchste Feiertag der Saison sein sollte.
Es regnet, ist mit 1 Grad Plus auch vergleichsweise unangenehm kalt, und wir sind spät dran – vor Buer stehen die Autos sicher schon kilometerweit auf der Autobahn, aber wir haben Glück: es hat sich noch nicht herum gesprochen, dass die Vinckestraße wieder offen ist, und so flüssig wie nie erreichen wir den üblichen Parkplatz am Stadion und machen uns auf den Weg. Von Ferne dröhnt gedämpfter Stadion-Kommerz-Lärm herüber – ist das Dach etwa zu?
Beim Sportparadies erstehen wir für 10€ eine feine Wollkappe für tiefgefrorene Ohren (natürlich ohne S04-Logo, sonst würde sie das Dreifache kosten), passieren Traurige, die mit ihren „Suche Karten“-Pappen im Regen stehen, durchwaten den Matsch vor der Osttribüne und erklimmen den Hügel zum Blau-Weißen Tempel.
Auch der Einlass geht sehr zügig heute, wir sind tatsächlich noch früh genug, um hinter der Nordkurve einen Haufen der üblichen Verdächtigen zu treffen und die verspäteten Neujahrsgrüße loszuwerden. Die Rangnick-Entlassung und die Preiserhöhungen für die nächste Saison scheinen noch nachzuwirken – einige haben ihre Trikots heute zu Hause gelassen (vielleicht waren sie ihnen auch einfach nur zu dünn).
Unbehelligt streifen ein paar SchwarzGelbe durch die blaue Masse, das wäre früher kaum möglich gewesen – aber sowieso ist heute vieles „ruhiger“. Selbst im „Kreisel“ werden lobende Worte gefunden für den Erzrivalen, der aus der Not heraus nun das tut, was sich mancher Schalker auch für seinen Verein wünscht: Er lässt den eigenen Nachwuchs ran, und kämpft nicht nur mit den Banken ums Überleben, sondern auch auf dem Rasen. Dort findet gerade irgendein Fan-Wettbewerb statt: Tor treffen aus soundsoviel Meter. Das sollten unsere Profis auch mal üben. Einige davon werden jetzt wegen irgendwas geehrt. 200 Spiele oder so. Wir sehen das alles nur aus den Augenwinkeln, auf den Monitoren.
Dann sind wir auf unseren Plätzen, die Musik scheint über die Winterpause nochmal ein paar Dezibel zugelegt zu haben. Langsam wird’s unerträglich – aber wenigstens ist das Dach doch auf. Muss einfach sein. Unten wärmen sich die Spieler auf, darunter Azaouagh, aber keine der Jungspunde wie Bungert und Baumjohann, die in ´Lautern noch dabei waren. Auch die ganz jungen, wie Boenisch, sind nicht da – die spielen heute auf Wunsch ihres Trainers ein Testspiel in Bremen, können heute nichtmal in der Kurve stehen und sind darüber einigermaßen sauer, verlieren mit 0:2, was Folgen haben wird.
Ein Zeppelin von „Air Berlin“ schwebt durch’s Rund, und wirft Bälle ab, die einen vielleicht nach Mallorca bringen werden. Wieso Mallorca? Wieso nicht Barcelona? Wäre das nicht passender?
Die Nachbarn sind alle gekommen, das ist schön, genauso wie die beeindruckende Choreographie die sich unter uns ausbreitet – ganz ungewöhnlich für ein Derby befasst sie sich nicht mit dem Gegner, sondern mit der Situation des Sports. Erstaunlich erwachsen. Der kleine Haufen Gelber drüben im Gästeblock dagegen scheint immer mehr in’s Kleinkinder-Alter abzudriften. Diesmal präsentieren sie ein „Fickt euch!“-Banner und Luftballons in einer Form, die wohl nur für Pubertierende irgendwie anstößig ist. Mensch, sind die tief gesunken, nicht mal aufregen kann man sich mehr über die. Jetzt zünden sie etwas Rauch, und dann sind sie das ganze Spiel über nicht mehr zu hören.
Das Spiel beginnt, und die Borussen stehen gut, treffen bei einem Krstajic-Patzer aus Versehen den Pfosten, bringen sonst aber nicht viel zustande. Die blauen Helden, auch die etwas von der Gnade gefallenen Sand und Rost, dagegen, spielen ausgereift, überlegen, und emotionslos. Was soll man davon halten?
Immerhin – es gibt ein paar gute Torchancen. Kuranyi per Kopf, Bordon mit Hammer, Lincoln per Freistoß, trifft nur die Latte und Poulsen, der einzige, in dem das Feuer zu brennen scheint, trifft Weidenfeller, der tot umfällt. Sicher eine allergische Reaktion auf den Kontakt mit wunderbaren Farben.
Kurze Zeit später wird der Simulant von einem eigenen Verteidiger über den Haufen gerempelt und erholt sich davon sofort. Seltsam. Auf den Rängen lassen die zum Support untauglichen Schmährufe der Gegner langsam nach und werden nur manchmal durch Anfeuerung fürs eigene Team ersetzt. Schalke ist besser, hat klar die Oberhand, aber nutzt die wenigen Gelegenheiten nicht – die Gelben profitieren mehrfach von der extremen Sehschwäche des Linienrichters unter uns, der partout kein Abseits erkennt, selbst wenn jemand 8 Meter im selben steht. Aber dann, natürlich ganz kurz vor der Pause, spielt ihnen der „Assistent“ einen Streich: Gambino wurschtelt sich durch, fällt im Strafraum, und wir auf den Rängen halten die Luft an.... kein Pfiff? Wirklich nicht? Das kollektive Durchatmen wird hörbar, und die Nationalfahnen (wegen der WM?) unter’m Dach geraten in’s Flattern. „Au au au, da haben wir ganz schön Glück gehabt“ – da sind sich alle einig.
Die Pausenunterhaltung ist wieder furchtbar laut und furchtbar belanglos. Gelächter und Buhruhfe brechen los, als der Stadionsprecher von den Konzerten in der Glückaufkampfbahn erzählt und zuletzt „Tokio Hotel“ erwähnt. „Ja, ist nicht so die richtige Zielgruppe hier“ murmelt der Ansager, und sein Kollege witzelt „Ich find die toll, da geh ich hin“. Ich vertreibe mir die Zeit mit „Rumgucken“. Irgendwas ist anders in der Arena, nicht nur die Fahnen unterm Dach...hm... dann hab ich’s: die grauen Betonwände, die von der Spielfeld-Wanne hinauf zu den Tribünen führen, sind schwarz gestrichen worden. Sieht besser aus. Viel besser.
Die zweite Halbzeit wird schlimm. Nichts geht mehr. Lincoln, der in der ersten Halbzeit noch ab und zu ein paar ansehnliche Aktionen zeigte, wartet jetzt nur noch ab – und da er einfach zu leicht und zu oft fällt, wird auch dann nicht gepfiffen, wenn es wirklich ein Elfmeter ist. Christian Poulsen scheint der einzige zu sein, der Drang nach vorne hat – seinen Pässen wohnt der Wille inne, eine Torchance zu ermöglichen – bei vielen anderen meint man eher, es ginge darum, Verantwortung generös an einen Kollegen abzutreten. Was ist da bloß los? Es ist wie bei einem Rennen zwischen einem nagelneuen Mercedes und einem alten Golf, der eine ist in allen Belangen ausgereifter und überlegen, will aber keinesfalls einen Kratzer abbekommen, der andere hat keine Chance, aber rackert sich ab, um im Rennen zu bleiben – sie passieren die Ziellinie zeitgleich, und die Zuschauer sehen schweigend zu.
Die Trauer über die Mannschaft vermischt sich mit der über die eigene Abgestumpftheit. Wieso fehlt heute das Bauchweh? Wieso regt man sich nicht mehr darüber auf? Es kommt Asamoah für Sand, später Altintop für Ernst, und nichts wird besser. Zehn Minuten vor Ende, als Weidenfeller endlich „Gelb“ für Zeitspiel erhält, greifen wir zum letzten Strohhalm: Rituelles Essen in der Arena. Die furchtbare Bratwurst kommt dafür nicht in Frage, normalerweise gehen wir zu „Pommes hinter Block 32“, aber das hat im Mai, beim letzten Derby, überhaupt nichts geholfen, deswegen probieren wir heute „Döner“.
Das ist eine Premiere, wir wissen nichtmal, wo’s das gibt. Am Bratwurststand schickt man uns nach unten, und wir finden das Gesuchte schließlich in der Nähe von Block U – „Chicken Döner“, sollte man sich das wirklich antun? Aber es ist die letzte Hoffnung, also 3.90€ (!) ausgegeben und dann stehen wir im Eingang zu Block R (schöner Blick) und verfolgen die letzten Minuten des Spiels.
Das wird uns um ein Haar zum Verhängnis. Als Rodriguez verletzt zu Boden geht, und behandelt werden muss, setzt eine Stampede ein. Zu Hunderten rasen Schalker aus dem Unterrang heraus und fliehen. Wir entgehen dem Totgetrampelt werden nur knapp, weichen zurück bis zu den Monitoren, sehen staunend, wie wirklich aus allen Ausgängen die Massen abfließen. Noch sind mindestens fünf Minuten zu spielen – so dramatisch kennt man das vom Oberrang nicht.
Wir erleben den Rest des Spiels im Kampf mit Döner, Salat und Soße, unterhalb der Monitore, entgehen der zweiten Fluchtwelle in der 89.Minute, und sind dann ebenso enttäuscht wie alle. Nur 0:0. Kein Plan, kein Wille, kein Sieg.
Draußen ziehen die Traurigen schweigend ab. Ein einsamer Gelber, zu voll des gelben Gerstensaftes, krächzt Schandlieder und kommt ungeschoren davon – die Leute sind einfach zu bedrückt.
Im Radio jammert Manni Breuckmann und wir drehen ihm den Saft ab. Nur nix mehr davon hören. Wie bei der Anreise schon, klappt auch die Abreise unglaublich gut heute, ruckzuck sind wir auf der Autobahn, und tatsächlich schon zuhause, als die letzten Minuten der Sportschau noch laufen – das passiert sonst nie. Aber heute bleibt die Kiste aus, und auch die Aufzeichnung wird ungesehen gelöscht.
Es ist einfach zu deprimierend. Ein Weichspüler-Derby geht zuende, ein Derby, in dem das Feuer fehlte, überall. Ein Derby, das so wenig an Emotionen weckte, dass die Erinnerung daran so schnell verblassen wird, wie nie zuvor.
Ich wünschte, die WM wäre schon vorbei.