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Interview von Bundesliga.de
Van Marwijk: 'Ich bin Realist und Idealist zugleich'
Bert van Marwijk könnte sich durchaus vorstellen, über das Jahr 2006 hinaus bei Borussia Dortmund zu arbeiten. 'Borussia ist ein Verein, bei dem ich jeden Tag mit Freude arbeite, auch in schlechten Zeiten', sagte der 52-Jährige, der die Westfalen in der Bundesliga-Rückrunde aus dem Tabellenkeller auf einen UI-Cup-Platz führte, in einem Interview.
Frage: Bert van Marwijk, wie lautet Ihr Fazit nach Ihrer ersten Saison in der Bundesliga?
Bert van Marwijk: Ich wusste ungefähr, was mich erwartet, doch wenn man die Bundesliga persönlich erlebt, ist es etwas anderes. Es ist sehr positiv. In Holland hat man nur in Spielen gegen Eindhoven und Amsterdam 40.000 oder 50.000 Zuschauer. Ich habe meinem Schwiegersohn Mark van Bommel mal gesagt: Hier in Dortmund spielen wir vergleichsweise jede Woche europäischen Fußball. Das ist schon ein großer Unterschied. Was mich besonders beeindruckt, ist, wie gegnerische Fans miteinander umgehen, dass sie nebeneinander stehen
und zusammen ins Stadion gehen - das ist in Holland unmöglich.
Frage: Und wo sehen Sie den Unterschied im fußballerischen Bereich?
van Marwijk: Mein grundsätzlicher Eindruck vom Fußball wurde bestätigt. Nur ist das technische Niveau in der Bundesliga noch höher, als ich es erwartet habe. In Holland denken wir mehr über taktische Konzepte nach und trainieren auch viel mehr auf Taktik. Für meine Begriffe sogar zu viel. In Holland ist man oft ein bisschen arrogant, weil man glaubt, dass man alles besser weiß. Dabei kann jeder noch lernen. Wir Holländer können von der deutschen Mentalität lernen, und die Deutschen können von der holländischen Fußball-Schule lernen.
Frage: Welchen Weg haben Sie bei Borussia Dortmund beschritten?
van Marwijk: Ich versuche, den Mix zu finden. Das gelingt ab und zu, aber nicht immer. Doch ich glaube, dass meine Spieler es inzwischen verstanden haben und mit Überzeugung dahinter stehen. Wichtig ist, dass sie Freude daran haben und sehen, dass man gut organisiert auch erfolgreich spielt.
Frage: Was ist in der Winterpause passiert, dass die Borussia seither 31 Punkte holte und die zweitbeste Rückrunden-Mannschaft wurde?
van Marwijk: Im Fußball ist alles möglich. Wir haben uns inzwischen an die gesamte Situation gewöhnt und es geschafft, alles hinter uns zu lassen. Dann haben wir in Wolfsburg das erste Spiel gewonnen, und dann kommt man oft in eine Phase, in der man eine Serie startet. Außerdem kamen verletzte Spieler wieder zurück, wir bekamen die Lizenz, und das Vertrauen in den Verein war wieder vorhanden. Wir haben auch eine andere Austrahlung bekommen. Keiner schreit oder schreibt mehr 'Scheiß Millionäre'. Jetzt spielt eine Mannschaft mit jungen Spielern, darunter viele deutsche aus dem eigenen Nachwuchs, erfrischend auf. Der Verein hat wieder Struktur, das gibt ein positives Gefühl für die Leute im und um den Verein.
Frage: Dabei sind Sie in den Medien in der Winterpause als erster Kandidat für einen Rausschmiss gehandelt worden...
van Marwijk: Ja, ja, und jetzt bin ich fast schon Trainer des Jahres. So ist das Geschäft. Ich lasse mich nicht verrückt machen. Wichtig ist es,in schlechten Zeiten Ruhe zu bewahren. Aber noch wichtiger ist es, in sehr guten Zeiten Ruhe zu bewahren. Viele machen da Fehler.
Frage: Die Borussia hat überraschend noch den UI-Cup erreicht. Aber das war sicher nicht das Ziel, als Sie im vergangenen Sommer ihr Amt angetreten haben...
van Marwijk: Als ich gekommen bin, habe ich gesagt: Wir wollen besser abschneiden, als die Saison davor. Ich habe dann schon bald gesehen, dass es sehr schwierig würde. Aber ich bin ein
Trainer, der sich schnell anpassen kann. Wenn ich das Gefühl habe, dass mir die Leute vertrauen, dann fühle ich mich wie ein langjähriges Mitglied des Vereins. Das habe ich in Sittard so erlebt und auch in Rotterdam, und das erlebe ich auch in Dortmund so. Ich bin auch kein Trainer, der sagt: Mein Stürmer spielt nicht gut, ich brauche einen neuen. Vielmehr verstehe ich meine Aufgabe so, dass ich mit dem Stürmer härter trainieren muss, um ihn in Form und nicht den Verein in Probleme zu bringen.
Frage: Im vergangenen Jahr hatten Sie keinen großen Einfluss auf die Personalplanungen. Wie sieht es derzeit aus, wo benötigen Sie noch Verstärkungen?
van Marwijk: Da uns etliche Spieler nach Auslaufen ihrer Verträge zum Saisonende verlassen, brauchen wir für jeden Mannschaftsteil neue Spieler. Für die rechte Abwehrseite haben wir ja schon Philipp Degen verpflichtet, als zweiten Torwart Bernd Meier, für den Sturm Delron Buckley. Das ist ein Spieler mit einem linken Fuß, der Flanken schlagen kann und torgefährlich ist. So
einen hatten wir bisher noch nicht. Im übrigen müssen wir sehr genau hinschauen, weil wir derzeit nicht in der Lage sind, viel zu investieren. Ich beobachte deshalb zur Zeit sehr intensiv unsere
eigenen Nachwuchsmannschaften. Im übrigen haben alle, die bleiben, das Alter und das Potenzial, um sich noch zu verbessern. Das gilt auch für Tomas Rosicky, von dem ich hoffe, dass er bleibt.
Frage: Was ist in der kommenden Saison mit diesem Kader möglich?
van Marwijk: In der letzten Zeit haben wir gesehen, was wir können und was wir nicht können. Wir haben eine junge Mannschaft, von der man noch nicht genau weiß: Kann sie auch unter hohem Druck spielen? Wir können uns noch steigern, und wir müssen ein Ziel haben. Wer mich kennt, der weiß, es ist ein hohes Ziel. Aber darüber reden wir in der Kabine. In der Öffentlichkeit muss man den Druck ein bisschen wegnehmen. Die Mannschaft ist noch so jung, man kann nicht mehr erwarten als dieses Jahr. Sie hat schon eine unglaubliche Leistung gebracht. Man muss realistisch bleiben. Denn um die Qualität einer Mannschaft wie Werder Bremen zu erreichen, braucht man noch ein bisschen Zeit.
Frage: Im vergangenen Jahr sind Sie mit dem Horror-Erlebnis einer Niederlage gegen Genk aus dem UI-Cup ausgeschieden. Was machen Sie in der nächsten Saison anders?
van Marwijk: Das ist nicht mehr zu vergleichen. Damals fehlten viele Spieler nach der EM und wegen Verletzungen, wir waren nur ein paar Tage im Training. Dieses Jahr muss ich anders planen. Deutschland spielt bis zum 29. Juni im Konföderationen-Pokal, und ich habe noch mehr Nationalspieler im Kader. Ich hoffe, dass alle Spieler vier Wochen Urlaub machen können, und dass wir alle mit frischer Kraft anfangen können, dann sehe ich zuversichtlich dem UI-Cup entgegen.
Frage: Ist es nicht auch anders, wenn man das Erreichen des UI-Cups als Erfolg sieht und dann in den Wettbewerb startet?
van Marwijk: Das ist richtig, es ist auch eine Sache des Kopfes. Wenn man das ganze Jahr Fünfter oder Sechster war und landet dann nur im UI-Cup, ist das schlechter, als wenn man diesen Wettbewerb erreicht und das als Belohnung empfindet.
Frage: Apropos Europapokal. Die Niederlande hatten mit Alkmaar und Eindhoven zwei Klubs in den Halbfinals von UEFA-Cup und Champions League, die Bundesliga keinen. War das nur ein Zufall?
van Marwijk: Das war ein Zufall und sagt nichts über die Stärke der beiden Ligen aus. Man darf Deutschland und Holland nicht vergleichen, man muss jedoch Respekt haben, dass zwei Mannschaften aus den Niederlanden im Halbfinale waren. Schließlich hat Holland nur 16 Millionen Einwohner, und die Klubs haben nicht soviel Geld wie die in Italien, Spanien, England oder auch Deutschland.
Frage: Die Saison könnten Sie am Samstag mit einem Sieg im Derby bei Schalke 04 krönen. Spüren Sie den Druck der Fans?
van Marwijk: Das müssen Sie eigentlich die Spieler fragen. Aber wir hören schon seit Tagen, wie die Fans über das Derby reden. Wir werden jede Sekunde des Tages daran erinnert. Das ist etwas
ganz Besonderes und hat nichts mit der Tabelle zu tun. Es ist jetzt ein Zufall, dass Schalke die Punkte ganz dringend benötigt und wir sie auch noch gebrauchen können. Das ist das Schöne an diesem Spiel. Im übrigen ist Dortmund gegen Schalke wie Amsterdam gegen Rotterdam. Man darf in einer Saison alle Spiele verlieren, nur das nicht.
Frage: Nach den Erkenntnissen der fast abgelaufenen Saison: Wie sehen Sie Ihre Zukunft in Dortmund?
van Marwijk: In der Vergangenheit war es so, dass ich langfristig bei Vereinen gearbeitet habe. Ich war vier Jahre bei Feyenoord und damit der Trainer, der am längsten in Rotterdam war. In Sittard war ich drei Jahre, da wollten sie mich gerne noch fünf weitere Jahre behalten. Wir werden uns nach der Saison zusammensetzen und über die Zukunft sprechen. Ich kann sagen, dass ich mich in Dortmund sehr wohl fühle. Borussia ist ein Verein, bei dem ich jeden Tag mit sehr viel Freude arbeite, auch in schlechten Zeiten.