Geheimbericht listet fatale Fehler der Polizei auf
Details eines bisher vertraulichen Untersuchungsberichts zur Tötung eines Unschuldigen in der Londoner U-Bahn bringen Scotland Yard zunehmend in Bedrängnis. So wurde das Opfer nicht eindeutig als Terrorist identifiziert, weil ein Polizist auf die Toilette musste.
London - Das Unglück nimmt am Morgen des 22. Juli seinen Lauf, genau zu dem Zeitpunkt, als Jean Charles de Menezes aus seinem Hauseingang an der Scotia Road in Tulse Hill im Süden Londons tritt. Einen Tag zuvor hatten vier Männer versucht, Sprengsätze in U-Bahnen und einem Bus zu zünden - genau 14 Tage nach den verheerenden Attentaten vom 7. Juli. Mindestens einen der Bombenleger vermuten die Fahnder, die vor dem Haus lauern, in dem Wohnblock. Außer dem Überwachungsteam vor dem Haus steht noch eine Gruppe von bewaffneten Kollegen hinter der nächsten Straßenecke bereit, um notfalls einzugreifen.
Als der 27-jährige Menezes das Haus verlässt, ahnt er nicht, dass er überwacht wird. In diesem Moment ist einer der Beamten, der den vermeintlichen Terroristen mit einer Videokamera aufnehmen und identifizieren soll, nicht an seinem Platz. Er habe sich "erleichtern müssen", sagt der Fahnder später aus - das jedenfalls geht aus einem Untersuchungsbericht der Unabhängigen Beschwerdekommission der Polizei (IPCC) hervor, der dem Fernsehsender ITV News vorliegt. Weil sie nicht genau wissen, mit wem sie es zu tun haben, gehen die Polizisten laut Bericht davon aus, dass es sich um Hussein Osman handelt, einen der Rucksackbomber. Sie verfolgen ihn. Anhand von Fotos meinen sie, den Terrorverdächtigen identifiziert zu haben. Menezes steigt in einen Bus steigt und fährt zur U-Bahn-Station Stockwell. Die Kommandozentrale gibt den Befehl, dass der Verdächtige keinesfalls bis in den U-Bahn-Schacht gelangen darf.
Menezes wirkt ganz entspannt
Menezes ahnt noch immer nichts von der Operation und setzt seinen Weg ungerührt fort. An der Station angekommen wird der Brasilianer laut Bericht von einer Überwachungskamera gefilmt: Er betritt die U-Bahn-Station mit einem Dauerticket, nimmt sich ein Exemplar der kostenlosen "Metro"-Zeitung von einem Stapel und fährt in aller Ruhe mit der Rolltreppe in die Tiefe. Erst dann läuft er los, um die Bahn noch zu erwischen. In diesem Moment bekommen die Beamten dem Bericht zufolge die Bestätigung, dass es sich um den gesuchten Terroristen handelt - ein fataler Irrtum.
Der Bericht widerspricht den ersten Stellungnahmen der Polizei in mehreren Punkten. Kurz nach dem Vorfall hatte es geheißen, Menezes sei vor den Beamten geflüchtet, über ein Drehkreuz gesprungen, sei dann zur U-Bahn gerannt, gestolpert und dort erschossen worden. Er habe außerdem eine dicke Winterjacke getragen - darunter habe man einen Sprengsatz vermutet. Laut unabhängigem Untersuchungsbericht trug er aber eine dünne Jeansjacke. Das ist auch auf Fotos zu sehen, die eine Überwachungskamera im Waggon aufgenommen hat.
Über das, was dann passiert, gehen die Darstellungen ebenfalls auseinander. Im offiziellen Polizeibericht war bislang von einer Verfolgungsjagd die Rede. Auf Aufforderungen, stehen zu bleiben, habe Menezes nicht reagiert, schließlich sei es zu einem Handgemenge gekommen. Dann sei er gemäß der "Shoot-to-kill"-Praxis erschossen worden, weil die Ermittler angenommen hatten, er trüge eine Bombe bei sich und wolle diese zünden.
Beamter berichtet andere Version
In dem Bericht ist hingegen die Aussage eines Überwachungsbeamten festgehalten, der sich bereits in die Bahn gesetzt hatte. Der Mann beschreibt die Szene völlig anders: Menezes betritt den Waggon durch die mittlere Tür, hält kurz inne, sieht sich um und nimmt dann auf dem zweiten oder dritten Sitz mit Blick auf den Bahnsteig Platz. Der Beamte hört dem Untersuchungsbericht zufolge einen Ruf "Polizei!", woraufhin der Brasilianer sich von seinem Sitz erhebt und in Richtung der Einsatzkräfte geht. Der Überwachungsbeamte packt Menezes und fixiert mit seinem Griff dessen Arme am Körper. Dann habe er ihn auf den Sitz zurückgeschoben, berichtet der Fahnder laut ITV News in dem Papier. "Ich hörte dann einen Pistolenschuss direkt neben meinem Ohr und wurde weggezogen auf den Boden des Waggons."
Dieser Aussage zufolge war Menezes also bereits überwältigt und bewegungsunfähig, als die Beamten das Feuer eröffneten. Die Obduktion ergibt später, dass Jean Charles de Menezes sieben Mal in den Kopf geschossen wurde und einmal in die Schulter. Drei weitere Schüsse verfehlen ihn.
Dass der Brasilianer bereits gesessen hatte, legen auch Fotos vom Ort des Geschehens nahe: Neben der Leiche des jungen Mannes ist eine große Blutlache zu sehen - vor dem dritten Sitz im Waggon.
Die für die Untersuchung zuständige Polizeikommission hat den Bericht bislang weder bestätigt noch dementiert. "Wir wollen uns nicht an Spekulationen beteiligen oder Teile unserer Informationen veröffentlichen, und andere sollten das auch nicht tun", heißt es laut BBC in einer knappen Stellungnahme. Die Untersuchungen müssten unter einer sehr hohen Geheimhaltungsstufe fortgeführt werden.
Die Frage nach Sinn und Unsinn der "Shoot-to-kill"-Strategie von Scotland Yard stellt sich jedoch drängender als je zuvor. "Der Bericht zeigt, dass es umgehend eine Diskussion darüber geben muss, ob diese Anweisung weiterhin Bestand haben muss", sagte Haariet Wistrich, die Anwältin der Familie Menezes. "Und der Fall zeigt auch, auf welch gefährliche Art diese Strategie schief gehen kann."
Friederike Freiburg - spiegel.de