Italien: Die Geschichte vom Spiel Null

Das Champions-League-Spiel Bergamo gegen Valencia hat das Coronavirus massiv weiterverbreitet, lautet eine weit verbreitete These in Italien. Was ist dran?

Atalanta Bergamo gegen den FC Valencia. Achtelfinale der Champions League in Mailand, 19. Februar, Hinspiel. 4:1 gewann Atalanta, doch in Italien wird das Fußballspiel derzeit in einen anderen Zusammenhang gestellt. Als "Spiel Null" wurde es bezeichnet – als hätte es den Ausbruch der Epidemie in Spanien und Italien zugleich ausgelöst. Italienische Medien schrieben gar, dass die spanischen Fans das Virus ins Land gebracht haben könnten. Immerhin gab es bereits seit dem 13. Februar einen positiven Fall in Valencia.

Auch die erhöhten Fallzahlen in Bergamo und Umgebung werden mit der Massenversammlung der Fans in Verbindung gebracht. Von einer "biologischen Bombe" rings um die Betonschüssel von San Siro schrieb der Corriere della Sera, eine "Explosion der Ansteckungen" sah die Tageszeitung Repubblica. Weltweit, auch in deutschen Medien, wurde die These aufgenommen. Doch es gibt Zweifel, ob die Rekonstruktion so stimmt.

"Die Situation hat sicher nicht geholfen, die Ansteckungsraten abzubremsen. Aber Informationen, die belegen, dass das Match die Infektionen massiv weiterverbreitet hat, haben wir auch nicht", sagte Gerolmina Ciancio, Sprecherin des Istituto Superiore della Sanità aus Rom, einer koordinierenden Gesundheitsbehörde. "Wir haben keine Zahlen, die einen Anstieg der Infektionen in der Provinz Bergamo auf dieses Fußballspiel zurückführen lassen", teilte auch eine Sprecherin der Protezione Civile, der Behörde, die in Italien den Covid-19-Notstand managt, auf Anfrage mit.

Ein Blick zurück zu jenem 19. Februar: Damals wurde noch Fußball gespielt, vor vollen Rängen. Knapp 45.000 Menschen kamen ins Stadion San Siro, 2.500 aus Valencia, die meisten anderen waren Anhänger von Atalanta Bergamo. Befürchtet waren Auseinandersetzungen unter den Fans. Denn Valencia war mit Inter Mailand in einer Fanfreundschaft verbunden, einem Rivalen der Atalanta. Das Polizeiaufgebot war deshalb groß.

Augenzeugen allerdings sahen Verbrüderungsszenen in den vollen Metro-Waggons der Linie 5. Marina Belotti, Journalistin des Branchendienstes calciomercato.com, berichtete von lauten Sprechchören der Atalanta-Fans, auf die ähnlich laute Chöre der Valencia-Anhänger antworteten. Am Ausgang umarmten sich dann einige der gegnerischen Fans. "Einige, so erinnere ich mich, weil es mich sehr beeindruckt hat, reichten dann auch noch die Bierbecher weiter", schrieb Belotti.

Mit dem Wissen von heute freilich auch ein potenzielles Ansteckungsschauspiel erster Güte. Darauf wiesen jetzt auch einige Experten hin. "Viren können damals mit großer Geschwindigkeit in die Luftwege gelangt sein, über Mund und Nase. Es war doch eine kollektive Erregung in einem historischen Match mit vielen Toren. Ich kann mir vorstellen, dass unter ihnen vielleicht auch Fieberkranke und Personen ohne Symptome waren", teilte der römische Immunologe Francesco Le Foche dem Corriere dello Sport mit.

Schaut man auf die offiziellen Fallzahlen, so gab es damals bis auf zwei im Krankenhaus isolierte Chinareisende keinen Infizierten in Italien. Und bis auf den aus Nepal angereisten Patienten im Krankenhaus von Valencia, der zu jenem Zeitpunkt noch nicht einmal als Corona-Kranker identifiziert war, auch keinen Fall in Spanien. Erst zwei Tage später wurde in Italien Fall Nummer 1 bekannt gegeben, der erste nicht auf China zurückführbare Corona-Kranke. Kurz darauf wurde auch aus der Umgebung von Bergamo der erste Fall gemeldet.

Von Tag zu Tag stieg die Kurve. Von 4 auf 9, dann 22 Fälle. Eine Woche nach dem Match waren es 117, zwei Wochen danach, am Ende der Inkubationszeit, 826. An jenem 4. März überholte die Provinz Bergamo erstmals Lodi. Das war die Provinz mit den allerersten Fällen. Sie wurde am 22. Februar zur "roten Zone" erklärt und abgeriegelt. Während die Fallzahlen dort in der Folgezeit linear anstiegen, von 790 am 4. März auf 1.773 am 21. März, erfolgte in Bergamo der Anstieg exponentiell: von 826 positiven Fällen am 4. März auf 6.215 am 21. März.

War der Fußball daran schuld? Er hat, wie die Sprecherin des Gesundheitsinstituts ISS konstatierte, sicher nicht zur Eindämmung beigetragen. "Es gibt in dem Gebiet um Bergamo aber mehrere Katalysatoren, die die Ausbreitung des Virus in seiner ganzen Dramatik befördert haben. Das Gebiet zeichnet sich durch große wirtschaftliche Aktivitäten und starken sozialen Austausch aus. Das ist ideal für das Virus. Ein zweiter Faktor ist, dass die Bevölkerung dort sehr arbeitsam ist und Krankheiten nicht so ernst nimmt", sagte der Immunologe Le Foche. Ein dritter Faktor ist sicherlich, dass erst am 7. März für die komplette Region Lombardei und damit auch für Bergamo der Ausnahmezustand erklärt und die Bewegungen eingeschränkt wurden. In Lodi geschah dies 14 Tage zuvor.

Der Vergleich der beiden nahe beieinander gelegenen Provinzen unterstreicht, dass früher eingeleitete drastische Maßnahmen die Ausbreitungsgeschwindigkeit tatsächlich reduzieren können. Fußballspiele stattfinden zu lassen oder sie abzusagen ist dabei ein Faktor. Monokausal ist die Angelegenheit aber wohl nicht.

Auf die Fallzahlen in Spanien könnte die Partie allerdings Auswirkungen gehabt haben. In Mailand infizierte sich erst ein mitreisender Journalist aus Valencia. Später steckten sich mehrere Spieler und Clubmitarbeiter an. 35 Prozent der kompletten Belegschaft in Valencia sollen mittlerweile positiv getestet worden sein. Im Atalanta-Kader hingegen sind Stand jetzt alle Profis weiter negativ, ein kleines Wunder mitten im Corona-Hotspot Bergamo.

Original: https://www.zeit.de/sport/2020-03/italien-bergamo-fussball-champions-league-coronavirus-verbreitung

Um es mehr Fans zugänglich zu machen. Und um es für die Nachwelt hier festzuhalten.

Italien lässt sich nicht unterkriegen! Wir lieben das Leben! :ita:
 

FCK-Fan-Simone

Lehrerin und Mutter
Teammitglied
Der entscheidende Abschnitt, woraus man lernen und anderswo anders agieren muss, ist meiner Meinung nach dieser:

"Ein dritter Faktor ist sicherlich, dass erst am 7. März für die komplette Region Lombardei und damit auch für Bergamo der Ausnahmezustand erklärt und die Bewegungen eingeschränkt wurden. In Lodi geschah dies 14 Tage zuvor."
 
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