Ohne jeden Zweifel: Dies ist der Film, der in den nächsten Jahren endlos imitiert werden wird. Wie „Pulp Fiction“ imitiert worden ist, die Dogma-Filme, „Blair Witch Project“. Die entscheidende Frage lautet, ob „Searching“ lediglich ein weiteres Genre erfunden hat, das Schreibtischkino nämlich, oder ob wir es mit etwas wahrhaft Revolutionärem zu tun haben: einer neuen Filmsprache.
Große Worte. Die ersten Minuten nerven nur. Die gesamte Leinwand ist gefüllt von einem Computerbildschirm, der Cursor hüpft auf dem Desktop hin und her, klickt auf dieses und jenes, Dateien öffnen und überlagern sich, Bilder laufen und werden wieder weggedrückt. Wie lange soll das so gehen, und wann beginnt endlich der richtige Film?
Es hört aber nicht auf. Dies ist der richtige Film. Die Taskleiste wird nicht verschwinden. Der Cursor auch nicht. Die Fenster werden weiter auf- und zuploppen. Wer hat hier den Mauszeiger in der Hand? Es könnte der Vater sein, den man in den Familienvideos sieht, wenn seine Frau schwanger ist, das erste Kind zur Welt kommt, die Tochter Klavier zu klimpern beginnt, die Mutter an Krebs erkrankt, sich erholt, einen Rückfall erleidet. Stirbt.
Ein Dutzend Kanäle, keine Antwort
Dann wird der Bildschirm schwarz, und man merkt plötzlich, dass man einer gut erzählten Lebensgeschichte in fünf Minuten gefolgt ist, durchaus gebannt und gerührt, wie der Vita des Rentners in dem meisterhaften Prolog des Pixar-Films „Oben“. Wenn der Schirm wieder aufleuchtet, sind wir in der Gegenwart, Vater und Tochter haben sich in dem Verlust eingerichtet, aber David nervt Margot durch seine überbeschützende Art, dauernd ruft er die 16-Jährige an, schickt Textbotschaften, meldet sich auf Facetime.
Zusammen sieht man sie nicht. Sie kommunizieren nur, alles spielt sich auf dem Schreibtisch ab. Wir sind ständig damit beschäftigt, elektronischen Diensten zu folgen, die Witwer David aufruft. Und dann, eines Morgens, erhält er keine Antwort mehr. Ein Dutzend Kanäle, und auf keinem meldet sich Margot. Es wird eine Ein-Kind-verschwindet-Geschichte, wie wir schon viele sahen – aber auf eine Art, die wir noch nie gesehen haben.
Denn Regisseur Aneesh Chaganty – ein 27-jähriger Inder ohne jegliche Kinoerfahrung – hält sich strikt an die selbst aufgestellte Regel, und die heißt: Was geschieht, geschieht nur auf diesem Bildschirm. Der Vater knackt das Passwort der Tochter und klappert nun alle virtuell ab: die Facetime-Kontakte, die Facebook-Freunde, die Instagram-Blogs, einen Selbst-Streaming-Dienst namens YouCast – und muss herausfinden, dass er seine Tochter kaum gekannt hat. Anscheinend hat sie ein Doppelleben geführt, Geld veruntreut, besitzt gar keine Freunde und lässt sich online mit Wildfremden ein.