Reviersport-Serie: Oberliga West 1955 - ...

S

s04rheinland

Guest
„Reviersport“ (www.reviersport.de) hat letzten Sonntag mit einer Serie über die Oberliga West begonnen – falls Interesse besteht, dann stelle ich hier diese Artikel mit etwas Verzögerung zur Druckausgabe ein (Die RS-Redaktion ist damit einverstanden).


Große RS-Serie: Faszination Oberliga West

Wohl kaum eine andere Zeit im deutschen Fußball besitzt im Ruhrgebiet einen derart legendären Ruf wie die Oberliga West. Was waren das für Spieltage? Welche Ergebnisse und welche Dramatik prägten das Fußball-Geschehen unter den Fördertürmen des Reviers? Geschichten von unvergessenen Spielern und legendären Mannschaften. Vor genau 50 Jahren begann jene Zeit, die später als die „Fußballjahre des Westens“ in die Annalen eingehen sollte. RevierSport will mit dieser Serie die Oberliga West Woche für Woche wieder lebendig machen. Für die Jüngeren, die vielleicht einen Eindruck bekommen von der Begeisterung rund um „die Straßenbahn-Liga“. Und für alle Älteren, die sich noch gut erinnern werden an diese Fußballtage im Westen.


Die Oberliga West vor 50 Jahren * Rot-Weiß Essen Halbzeitmeister * Das Schreckgespenst Gelbfieber! * Folge eins

Kohlenpott und Fußballhelden: RWEssen auf dem Weg zum Titel




Sicher, der Ball war auch damals schon rund und nach dem Spiel war vor dem Spiel. Aber ansonsten hat sich doch einiges verändert in diesen 50 Jahren zwischen gestern und heute. Der Krieg war 1955 seit zehn Jahren vorüber, aber die Folgen wirklich zu überwinden, daran arbeitete man noch. Der wirtschaftliche Aufschwung brachte dem Land nach und nach einen angenehmen Wohlstand. Vollbeschäftigung und Arbeitskräftemangel hießen die ökonomischen Schlagworte der Zeit. Das Ruhrgebiet war noch das, was heute nur noch die Älteren aus eigenem Erleben kennen: die Region von Stahl und Kohle, der industrielle Motor des deutschen Wirtschaftswunderlandes. Die Häuser standen grau in grau und im Winter erstrahlte der Schnee nicht weiß, sondern fahl vor Ruß und dem Industriedreck. Während der deutsche Film in Kinoerfolgen wie „Grün ist die Heide“ oder „Die Hergottschnitzer von Ammergau“ das ländliche Milieu mit seiner bäuerlichen Lebensweise zur Heimat schlechthin stilisierte, waren die Menschen zwischen Ruhr und Emscher weit entfernt von einem selbstbewussten Auftreten. „Kohlenpott“ galt noch nicht als modisch verbrämter Kulturbegriff, sondern als Verunglimpfung einer ganzen Region.


Der Fußball bewirkte in dieser Zeit in vielerlei Hinsicht wahre Wunder: Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Wankdorf-Stadion zu Bern, also jener 3:2-Sieg über Ungarn im WM-Finale 1954, lag erst wenige Monate zurück. Beim Gepöhle in den Hinterhöfen und auf den Bolzplätzen eiferten Kinder und Jugendliche ihren Vorbildern Fritz Walter, Berni Klodt und Toni Turek nach, in einem Land, in dem es ansonsten an Helden mangelte. Hier im Westen überragte allerdings einer alle anderen: Helmut Rahn, 1951 von den Spfr. Katernberg zu Rot-Weiss Essen gewechselt, konnte kaum von einer seiner Stammkneipen in die nächste wandern, ohne dass ihm irgendein Kumpel zurief: Helmut, erzähl mich dat Tor!“ Mit dem WM-Titel im Rücken setzte der Fußball zu einem erneuten Höhenflug an. Wohl zu keiner Zeit zuvor oder danach war die Identifikation der Anhänger mit den lokalen Vereinen so groß. Die Mannschaften blieben
oftmals über Jahre hinweg zusammen, und die Spieler stammten meistens noch aus dem lokalen Umfeld. Über die Hälfte der Vereine der Oberliga West stammten aus dem Ruhrgebiet. Und da, wo sich bei den Menschen der kollektive Stolz auf ihren „Ruhrpott“ noch nicht hervortraute, da übernahmen die Fußball-Vereine diese Funktion. Während die Grenzen zwischen den Städten mehr und mehr verwischten, nahmen die Gräben zwischen den Vereinen und ihren Anhängern immer deutlichere Formen an. Noch lange vor der Dominanz des Fernsehens war es zu jener Zeit vollkommen undenkbar, dass jemand im Revier für den 1. FC Kaiserslautern oder den FC Bayern München schwärmte. Die mit Spannung erwarteten Derbys wie Rot-Weiss gegen Schwarz-Weiss Essen, Meidericher SV gegen Duisburger SV oder Westfalia Herne gegen SV Sodingen glichen dagegen sozialen Bekenntnissen: „Arbeiter- gegen Lackschuhverein“, der
Vorortklub gegen die „Prominentenmannschaft“. „Als ich mein erstes Spiel noch auf dem alten Sodinger Platz machte, da stand die Menge direkt hinter der Einfriedung. Wenn man den Ball holen musste, haben die Zuschauer einen mit Schirmen oder mit den bloßen Händen auf den Kopf gehauen. Danach habe ich gar keinen Einwurf mehr gemacht. Das lohnte sich nicht“, erinnert sich Gert Rappenberg, Spieler vonWestfalia, an seine schmerzhaften Derby-Erfahrungen im Herner Vorort Sodingen.

In der Hinrunde der Saison 1954/55 dominierte eine Mannschaft das Geschehen: der ungeschlagene Halbzeitmeister Rot-Weiss Essen. Unter dem neuen Trainer Fritz Szepan schienen die Männer von der Hafenstraße aus Bergeborbeck mit 27:3 Punkten einen ungefährdeten Durchmarsch hinzulegen. Schon in den Jahren zuvor hatte sich die Elf um den RWE-Macher Georg Melches zu einem Spitzenteam im Westen gemausert: Westdeutscher Meister 1952, DFB-Pokalsieger 1953 und Westdeutscher Vizemeister 1954. In den Endrundenspielen um die Deutsche Meisterschaft hatten die Mannen aus der damals größten Kohlenstadt Europas bislang jedoch nichts zu bestellen - genauso wenig wie die anderen Vereine des Reviers.

Aber in dieser Spielzeit versprach gerade die Sturmreihe um Rechtsaußen Helmut Rahn, den trickreichen Halbrechten „Penny“ Islacker, den Dirigenten und gewichtigem Sturmtank August Gottschalck, den Halblinken Johannes Röhrig und den schnellen Linksaußen Bernie Termath auch nationale Meriten. Jedenfalls wurden die Essener in der Sportpresse schon zu Saisonbeginn als ein Favorit auf die Deutsche Meisterschaft gehandelt. Dabei lief anfangs bei weitem nicht alles nach Plan: das Schreckgespenst Gelbfieber grassierte. Neben den WMHelden Fritz Walter, Max Morlock und Heinz Kubsch erwischte es auch Helmut Rahn, der in RWEs Sturmreihe auf rechts gesetzt über Wochen hinweg ausfiel. Im Winter 1954/55 mussten zeitweise bis zu acht Nationalspieler wegen der rätselhaften Gelbfieber-Fälle zur Kur. Die Gründe dafür? Schon 1954/55 machten Doping-Vorwürfe die Runde, aber die Wahrheit ist vermutlich viel unspektakulärer - und naiver: Helmut Rahn soll nach einer Südamerika- Reise mit Rot-Weiss Essen davon berichtet haben, dass Brasiliens Spieler vor dem Spiel Spritzen zur Leistungsförderung bekommen hätten. Daraufhin sei man in Kreis der Nationalmannschaft „auf den Dreh gekommen“, erzählte der damalige Mannschaftsarzt Franz Loogen, „den Spielern Vitamin-C zu injizieren.“ Angeblich sollte das die Ausdauer fördern. Man konnte zwar keine Effekte messen, so Loogen, aber die Spieler glaubten daran.“ Man vermutet heute, dass die Nadeln der Spritzen nicht ausreichen sterilisierte waren und so die Krankheitskeime einer nicht erkannten Gelbsucht eines Spielers an andere übertragen wurden. Zum Neujahrstag 1955 wurde nun Essens Torhüter Fritz Herkenrath, der gerade von einer Landerspielreise zurückgekehrt war, mit den typischen Symptomen ins Krankenhaus eingeliefert.

Es zog ein Rauschen durch den Blätterwald: „Herkenrath liegt isoliert“, titelte dieWAZ, und Essens weitere Sorgen um Bernie Termath und Willi Vordenbäumen ließ manchen Anhänger schon orakeln: Die Verletzungsmisere könne die Meisterschaft kosten! – Mit Spannung sah man also dem Rückrundenstart entgegen.


Erste Saisonniederlage für RWE!
Essen: Golbach, Göbel, Köchling, Jahnel, Wewers,Grewer, Rahn, Vordenbäumen, Gottschalk, Islacker, Röhrig
Leverkusen: Mutz,Cesar, Flohr, Becks, Röger, Papenhoff, Langwagen, Nussbaum, Tiede, Bering, Schultz
Tor: 0:1 Schultz (57.) – Zuschauer: 11.000

Als einzige ungeschlagene Mannschaft aller Oberligen gingen die Rot-Weissen in das Jahr 1955 und prompt erwischte es den Halbzeitmeister am ersten Rückrunden-Spieltag. Und ausgerechnet auf eigenem Platz. Die Gründe dafür? RWE begann konzentriert und trotz des gefrorenen Bodens gelangen über die Stürmer Röhrig, Islacker und Vordenbäumen hervorragende und verwirrende Ballpassagen. Die Zuschauer richteten sich schon auf einen runden Sieg ein. Nur: In dieser klaren Feldüberlegenheit erlaubten
sich die Rot-Weissen des Guten zuviel. Der Ball sollte regelrecht ins Tor getragen werden, aber zur Halbzeit stand es entgegen
aller Erwartungen 0:0.

Und dann kam es so, wie es halt kommen musste. Ein harmlos aussehender Eckball nach einer knappen Stunde wurde von
Schultz zur vollkommen überraschenden Leverkusener Führung eingeköpft. Von da an ging eine RWE-Offensive über den Platz,
wie man sie selten gesehen hat. Aber Leverkusen hatte da schon längst am eigenen Sechzehner zum Sammeln geblasen und stellte nun scharenweise Verteidiger gegen die Rot-Weisse Sturmflut. Vor allem der rankenschlanke Torhüter Mutz, der Akrobat im Bayer-Tor, lief zu einer großen Form auf. Dazu kam noch, dass Essens Stürmer schlecht schossen – am allerschlechtesten Rahn, der so daneben war, dass alle kopfschüttelnd nach einem plausiblen Grund suchten. Am Ende – nach 14:4 Ecken und 5:2 Pfostenschüssen für Rot-Weiss - führte Leverkusens Abwehrschlacht zum überraschenden Erfolg.

Nachgefragt:
Herr Rottwilm, Sie verfolgen seit über 50 Jahren die Fußballszene des Reviers. Mit welchen Vereinen identifizierte man sich zu Zeiten der Oberliga West?

Das war meistens stadtteil- oder eben stadtbezogen.Man fand als Zuschauer eben seinen lokalen Verein gut. Viele hier in Essen waren bedingt durch die großen Vorkriegserfolge auch Anhänger von Schalke 04. Das hatten gerade die Älteren noch selbst erlebt. Schalke war ja die erste Mannschaft im Revier, die überhaupt Deutscher Meister wurde.

Eine ausführliche Fernsehberichterstattung gab es noch nicht.Wie haben Sie die Ergebnisse der anderen Spiele erfahren?

Gespielt wurde Sonntags um 15 Uhr. Im Winter schon um 14.15 Uhr. Bei RWE wurden damals nach Spielschluß über Lautsprecher die Ergebnisse verkündet.Man wartete halt darauf und rannte dann nach Hause, um die Sendung „Sport und
Musik“ um 17.15 Uhr im WDR 2 mit Kurt Brumme nicht zu verpassen. Da gab es Reportagen von den anderen Oberliga-Plätzen. Wir hatten noch kein Radio, und baten immer einen Nachbarn darum, sein Radio doch bitte lauter zu stellen. Wir hockten dann mit vier Jungs auf dem Flur, um den Reportagen zu lauschen: „Hallo, hier ist Kurt Brumme vom Aachener Tivoli...“ – Das war die Fußball-Welt! Das werde ich nie vergessen.

Manfred Rottwilm , Jahrgang 1939, sah sein erstes Oberliga West-Spiel 1951.
 
Zuletzt bearbeitet:
S

s04rheinland

Guest
..gestern war der zweite Teil dieser Serie in der RS abgedruckt. Es ging um den SV Sodingen. Da es hier auf den ersten Teil keine Reaktionen und kaum Leser gab, werd ich das Teil nicht mehr reinstellen - für die wenigen Interessierten hoffe ich, dass die Serie mal als Buch erscheinen wird (ansonsten: das Digital-Abo ist nicht besonders teuer :)
 

BOH-Boy

Trunkenbold
Ich fand es ganz intressant den Bericht über RWE zu lesen, auch wenn die Essener in meiner Symphatie-Skala sehr nahe bei Schlacke stehen :zwinker3:

SV Sodingen kenne ich nur vom Namen her, ansonsten weiß ich nicht viel von den Verein. Durchlesen würd ich mir den Bericht aber auf jeden Fall :jaaa:
 
Die Legende RWE

:hand:
s04rheinland schrieb:
„Reviersport“ (www.reviersport.de) hat letzten Sonntag mit einer Serie über die Oberliga West begonnen – falls Interesse besteht, dann stelle ich hier diese Artikel mit etwas Verzögerung zur Druckausgabe ein (Die RS-Redaktion ist damit einverstanden).


Große RS-Serie: Faszination Oberliga West

Wohl kaum eine andere Zeit im deutschen Fußball besitzt im Ruhrgebiet einen derart legendären Ruf wie die Oberliga West. Was waren das für Spieltage? Welche Ergebnisse und welche Dramatik prägten das Fußball-Geschehen unter den Fördertürmen des Reviers? Geschichten von unvergessenen Spielern und legendären Mannschaften. Vor genau 50 Jahren begann jene Zeit, die später als die „Fußballjahre des Westens“ in die Annalen eingehen sollte. RevierSport will mit dieser Serie die Oberliga West Woche für Woche wieder lebendig machen. Für die Jüngeren, die vielleicht einen Eindruck bekommen von der Begeisterung rund um „die Straßenbahn-Liga“. Und für alle Älteren, die sich noch gut erinnern werden an diese Fußballtage im Westen.


Die Oberliga West vor 50 Jahren * Rot-Weiß Essen Halbzeitmeister * Das Schreckgespenst Gelbfieber! * Folge eins

Kohlenpott und Fußballhelden: RWEssen auf dem Weg zum Titel




Sicher, der Ball war auch damals schon rund und nach dem Spiel war vor dem Spiel. Aber ansonsten hat sich doch einiges verändert in diesen 50 Jahren zwischen gestern und heute. Der Krieg war 1955 seit zehn Jahren vorüber, aber die Folgen wirklich zu überwinden, daran arbeitete man noch. Der wirtschaftliche Aufschwung brachte dem Land nach und nach einen angenehmen Wohlstand. Vollbeschäftigung und Arbeitskräftemangel hießen die ökonomischen Schlagworte der Zeit. Das Ruhrgebiet war noch das, was heute nur noch die Älteren aus eigenem Erleben kennen: die Region von Stahl und Kohle, der industrielle Motor des deutschen Wirtschaftswunderlandes. Die Häuser standen grau in grau und im Winter erstrahlte der Schnee nicht weiß, sondern fahl vor Ruß und dem Industriedreck. Während der deutsche Film in Kinoerfolgen wie „Grün ist die Heide“ oder „Die Hergottschnitzer von Ammergau“ das ländliche Milieu mit seiner bäuerlichen Lebensweise zur Heimat schlechthin stilisierte, waren die Menschen zwischen Ruhr und Emscher weit entfernt von einem selbstbewussten Auftreten. „Kohlenpott“ galt noch nicht als modisch verbrämter Kulturbegriff, sondern als Verunglimpfung einer ganzen Region.


Der Fußball bewirkte in dieser Zeit in vielerlei Hinsicht wahre Wunder: Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Wankdorf-Stadion zu Bern, also jener 3:2-Sieg über Ungarn im WM-Finale 1954, lag erst wenige Monate zurück. Beim Gepöhle in den Hinterhöfen und auf den Bolzplätzen eiferten Kinder und Jugendliche ihren Vorbildern Fritz Walter, Berni Klodt und Toni Turek nach, in einem Land, in dem es ansonsten an Helden mangelte. Hier im Westen überragte allerdings einer alle anderen: Helmut Rahn, 1951 von den Spfr. Katernberg zu Rot-Weiss Essen gewechselt, konnte kaum von einer seiner Stammkneipen in die nächste wandern, ohne dass ihm irgendein Kumpel zurief: Helmut, erzähl mich dat Tor!“ Mit dem WM-Titel im Rücken setzte der Fußball zu einem erneuten Höhenflug an. Wohl zu keiner Zeit zuvor oder danach war die Identifikation der Anhänger mit den lokalen Vereinen so groß. Die Mannschaften blieben
oftmals über Jahre hinweg zusammen, und die Spieler stammten meistens noch aus dem lokalen Umfeld. Über die Hälfte der Vereine der Oberliga West stammten aus dem Ruhrgebiet. Und da, wo sich bei den Menschen der kollektive Stolz auf ihren „Ruhrpott“ noch nicht hervortraute, da übernahmen die Fußball-Vereine diese Funktion. Während die Grenzen zwischen den Städten mehr und mehr verwischten, nahmen die Gräben zwischen den Vereinen und ihren Anhängern immer deutlichere Formen an. Noch lange vor der Dominanz des Fernsehens war es zu jener Zeit vollkommen undenkbar, dass jemand im Revier für den 1. FC Kaiserslautern oder den FC Bayern München schwärmte. Die mit Spannung erwarteten Derbys wie Rot-Weiss gegen Schwarz-Weiss Essen, Meidericher SV gegen Duisburger SV oder Westfalia Herne gegen SV Sodingen glichen dagegen sozialen Bekenntnissen: „Arbeiter- gegen Lackschuhverein“, der
Vorortklub gegen die „Prominentenmannschaft“. „Als ich mein erstes Spiel noch auf dem alten Sodinger Platz machte, da stand die Menge direkt hinter der Einfriedung. Wenn man den Ball holen musste, haben die Zuschauer einen mit Schirmen oder mit den bloßen Händen auf den Kopf gehauen. Danach habe ich gar keinen Einwurf mehr gemacht. Das lohnte sich nicht“, erinnert sich Gert Rappenberg, Spieler vonWestfalia, an seine schmerzhaften Derby-Erfahrungen im Herner Vorort Sodingen.

In der Hinrunde der Saison 1954/55 dominierte eine Mannschaft das Geschehen: der ungeschlagene Halbzeitmeister Rot-Weiss Essen. Unter dem neuen Trainer Fritz Szepan schienen die Männer von der Hafenstraße aus Bergeborbeck mit 27:3 Punkten einen ungefährdeten Durchmarsch hinzulegen. Schon in den Jahren zuvor hatte sich die Elf um den RWE-Macher Georg Melches zu einem Spitzenteam im Westen gemausert: Westdeutscher Meister 1952, DFB-Pokalsieger 1953 und Westdeutscher Vizemeister 1954. In den Endrundenspielen um die Deutsche Meisterschaft hatten die Mannen aus der damals größten Kohlenstadt Europas bislang jedoch nichts zu bestellen - genauso wenig wie die anderen Vereine des Reviers.

Aber in dieser Spielzeit versprach gerade die Sturmreihe um Rechtsaußen Helmut Rahn, den trickreichen Halbrechten „Penny“ Islacker, den Dirigenten und gewichtigem Sturmtank August Gottschalck, den Halblinken Johannes Röhrig und den schnellen Linksaußen Bernie Termath auch nationale Meriten. Jedenfalls wurden die Essener in der Sportpresse schon zu Saisonbeginn als ein Favorit auf die Deutsche Meisterschaft gehandelt. Dabei lief anfangs bei weitem nicht alles nach Plan: das Schreckgespenst Gelbfieber grassierte. Neben den WMHelden Fritz Walter, Max Morlock und Heinz Kubsch erwischte es auch Helmut Rahn, der in RWEs Sturmreihe auf rechts gesetzt über Wochen hinweg ausfiel. Im Winter 1954/55 mussten zeitweise bis zu acht Nationalspieler wegen der rätselhaften Gelbfieber-Fälle zur Kur. Die Gründe dafür? Schon 1954/55 machten Doping-Vorwürfe die Runde, aber die Wahrheit ist vermutlich viel unspektakulärer - und naiver: Helmut Rahn soll nach einer Südamerika- Reise mit Rot-Weiss Essen davon berichtet haben, dass Brasiliens Spieler vor dem Spiel Spritzen zur Leistungsförderung bekommen hätten. Daraufhin sei man in Kreis der Nationalmannschaft „auf den Dreh gekommen“, erzählte der damalige Mannschaftsarzt Franz Loogen, „den Spielern Vitamin-C zu injizieren.“ Angeblich sollte das die Ausdauer fördern. Man konnte zwar keine Effekte messen, so Loogen, aber die Spieler glaubten daran.“ Man vermutet heute, dass die Nadeln der Spritzen nicht ausreichen sterilisierte waren und so die Krankheitskeime einer nicht erkannten Gelbsucht eines Spielers an andere übertragen wurden. Zum Neujahrstag 1955 wurde nun Essens Torhüter Fritz Herkenrath, der gerade von einer Landerspielreise zurückgekehrt war, mit den typischen Symptomen ins Krankenhaus eingeliefert.

Es zog ein Rauschen durch den Blätterwald: „Herkenrath liegt isoliert“, titelte dieWAZ, und Essens weitere Sorgen um Bernie Termath und Willi Vordenbäumen ließ manchen Anhänger schon orakeln: Die Verletzungsmisere könne die Meisterschaft kosten! – Mit Spannung sah man also dem Rückrundenstart entgegen.


Erste Saisonniederlage für RWE!
Essen: Golbach, Göbel, Köchling, Jahnel, Wewers,Grewer, Rahn, Vordenbäumen, Gottschalk, Islacker, Röhrig
Leverkusen: Mutz,Cesar, Flohr, Becks, Röger, Papenhoff, Langwagen, Nussbaum, Tiede, Bering, Schultz
Tor: 0:1 Schultz (57.) – Zuschauer: 11.000

Als einzige ungeschlagene Mannschaft aller Oberligen gingen die Rot-Weissen in das Jahr 1955 und prompt erwischte es den Halbzeitmeister am ersten Rückrunden-Spieltag. Und ausgerechnet auf eigenem Platz. Die Gründe dafür? RWE begann konzentriert und trotz des gefrorenen Bodens gelangen über die Stürmer Röhrig, Islacker und Vordenbäumen hervorragende und verwirrende Ballpassagen. Die Zuschauer richteten sich schon auf einen runden Sieg ein. Nur: In dieser klaren Feldüberlegenheit erlaubten
sich die Rot-Weissen des Guten zuviel. Der Ball sollte regelrecht ins Tor getragen werden, aber zur Halbzeit stand es entgegen
aller Erwartungen 0:0.

Und dann kam es so, wie es halt kommen musste. Ein harmlos aussehender Eckball nach einer knappen Stunde wurde von
Schultz zur vollkommen überraschenden Leverkusener Führung eingeköpft. Von da an ging eine RWE-Offensive über den Platz,
wie man sie selten gesehen hat. Aber Leverkusen hatte da schon längst am eigenen Sechzehner zum Sammeln geblasen und stellte nun scharenweise Verteidiger gegen die Rot-Weisse Sturmflut. Vor allem der rankenschlanke Torhüter Mutz, der Akrobat im Bayer-Tor, lief zu einer großen Form auf. Dazu kam noch, dass Essens Stürmer schlecht schossen – am allerschlechtesten Rahn, der so daneben war, dass alle kopfschüttelnd nach einem plausiblen Grund suchten. Am Ende – nach 14:4 Ecken und 5:2 Pfostenschüssen für Rot-Weiss - führte Leverkusens Abwehrschlacht zum überraschenden Erfolg.

Nachgefragt:
Herr Rottwilm, Sie verfolgen seit über 50 Jahren die Fußballszene des Reviers. Mit welchen Vereinen identifizierte man sich zu Zeiten der Oberliga West?

Das war meistens stadtteil- oder eben stadtbezogen.Man fand als Zuschauer eben seinen lokalen Verein gut. Viele hier in Essen waren bedingt durch die großen Vorkriegserfolge auch Anhänger von Schalke 04. Das hatten gerade die Älteren noch selbst erlebt. Schalke war ja die erste Mannschaft im Revier, die überhaupt Deutscher Meister wurde.

Eine ausführliche Fernsehberichterstattung gab es noch nicht.Wie haben Sie die Ergebnisse der anderen Spiele erfahren?

Gespielt wurde Sonntags um 15 Uhr. Im Winter schon um 14.15 Uhr. Bei RWE wurden damals nach Spielschluß über Lautsprecher die Ergebnisse verkündet.Man wartete halt darauf und rannte dann nach Hause, um die Sendung „Sport und
Musik“ um 17.15 Uhr im WDR 2 mit Kurt Brumme nicht zu verpassen. Da gab es Reportagen von den anderen Oberliga-Plätzen. Wir hatten noch kein Radio, und baten immer einen Nachbarn darum, sein Radio doch bitte lauter zu stellen. Wir hockten dann mit vier Jungs auf dem Flur, um den Reportagen zu lauschen: „Hallo, hier ist Kurt Brumme vom Aachener Tivoli...“ – Das war die Fußball-Welt! Das werde ich nie vergessen.

Manfred Rottwilm , Jahrgang 1939, sah sein erstes Oberliga West-Spiel 1951.
 
Unser Herz gehörte und gehört RWE

Ja, das waren Zeiten im alten Pott.
Wie Sie in Ihrem Bericht das Szenario und das Umfeld der ehemaligen Oberliga West beschreiben, ist bewundernswert. Man fühlt sich in die rußgeschwärzte Fußballwelt des Kumpels Czervinsky (WAZ Glossen) zurückversetzt.
"Dat hat der für mich gesacht, dat wir morgen offe Hafenstraße mit die Preußen (aus Dellbrück) kurze fuffzehn machen"

Wir Dellwiger unter der Zeche Levin waren nur einen Katzensprung von der Hafenstraße entfernt und fieberten schon Samstags nach Schulschluß dem
Sonntag entgegen, um mit den Schulfreunden über Vogelheim zu "unseren Jungs von RWE" zu marschieren.
Mannschaften wie Rheidter SV, SV Erkenschwick oder Westfalia Herne wurden nicht selten mit Packungen von 3:0 bis 7:0 nach Hause geschickt.

In der Hoffnung, daß RWE heute nur ein klein wenig an die Erfolge ihrer ruhmreichen Vorgänger anknüpft, wünsche ich ihnen für weitere stimmungsvolle Berichte über die "Alten Zeiten" ein positives Echo von möglichst vielen zufriedenen Lesern.
 
S

s04rheinland

Guest
kickout schrieb:
...
Wie Sie in Ihrem Bericht das Szenario und das Umfeld der ehemaligen Oberliga West beschreiben, ist bewundernswert.
Der Bericht stammt (wie erwähnt) aus der RevierSport. Vor knapp zwei Jahren gab es dort eine ganze Serie über die Oberliga (kann beim Verlag evtl. angefragt werden), ansonsten empfiehlt sich sicherlich Baroth's "Jungens, euch gehört der Himmel"

kickout schrieb:
Mannschaften wie Rheidter SV, SV Erkenschwick oder Westfalia Herne wurden nicht selten mit Packungen von 3:0 bis 7:0 nach Hause geschickt.
Da ist wohl der Rheydter SV gemeint, der im "Spö" spielt ?
 
Oben